Brennender Stoff!

Ein Text von Marian Vatter.

 Mit der Entwicklung der Fashion Week Berlin und der gleichzeitigen Entstehung bedeutender Modemessen hat sich Berlin im Laufe des letzten Jahrzehnts zum internationalen Modestandort entwickelt. Dass die Stadt jedoch auch auf eine bedeutende Modehistorie zurückblicken kann, ist dabei kaum bewusst. Noch viel wichtiger ist, dass die Wurzeln dieser Geschichte jüdisch geprägt waren.

 

Die Gründung der Berliner Bekleidungsindustrie geht bis in das Jahr 1812 zurück, als das Edikt „betreffend der bürgerlichen Verhältnisse der Juden im preußischen Staate“ erlassen wurde und der jüdischen Bürgerschaft in den Provinzen Brandenburg, Schlesien, Preußen und Pommern erstmals eine umfassende Gewerbefreiheit zubilligte. Juden war es bis zu diesem Zeitpunkt nicht gestattet, im Kleiderhandel tätig zu sein. Ihre einzige Möglichkeit in dieser Branche Fuß zu fassen, bot sich in Form des Altkleiderhandels, auf dessen Markt sie sich über Jahrhunderte in großer Zahl betätigten.

 

Das Edikt, das auch als „Emanzipationsedikt“ bekannt ist, bildet somit den Grundstock für das Entstehen und Gedeihen der Berliner Konfektion, da aufgrund der veränderten Gesetzgebung nun zahllose unfreie Juden nach Berlin migrierten. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass sich unter den Zuwanderern zahlreiche Schneider befanden, welche die Berliner Bekleidungsbranche entweder mit eigenen Schneiderwerkstätten oder als fähige Arbeiter in bereits ansässigen Unternehmen immens bereicherten.

 

Zur Gründergeneration jener jüdischen Konfektionäre zählen insbesondere die Modefirmen von Valentin Manheimer, Hermann Gerson und Nathan Israel. Sie waren es, die ihre Unternehmen im 19. Jahrhundert geradezu sternenförmig um den Hausvogteiplatz in Berlin Mitte ansiedelten, der sich auf diese Weise zum Zentrum der städtischen Kleiderproduktion entwickelte. So begründete sich ein regelrechtes Konfektionsmilieu, das „Milieu der Hausvogtei“, das im Laufe der Jahre zu einem internationalen Begriff avancierte.

Der Platz stand symptomatisch für qualitativ hochwertige und dennoch erschwingliche „Mode von der Stange“. Die Berliner Konfektionäre schufen, wie Brunhilde Dähn, eine frühe Chronistin der Berliner Konfektion, schreibt, so gesehen „das Kleid für Frau Jedermann: Chic, flott, tragbar, modern und billig. Das war noch nicht gewesen und wurde erstmalig in der Welt des Hausvogteiplatzes verwirklicht.“

 

In diesem Punkt bewies sich das Größensystem der „bunten Sterne vom Hausvogteiplatz“ als entscheidend. Es war eines der ersten seiner Art, das eine serielle Produktion von Kleidung nach einem einheitlichen Größensystem in hohen Stückzahlen ermöglichte – Die Entstehung der Berliner Konfektion.

 

Das 19. Jahrhundert gestaltete sich für den Berliner Modebetrieb sehr erfolgreich. Berliner Kleidung sprach ein großes und internationales Publikum an. Man verkaufte über Messen, wie die Berliner Durchreise, die älteste Modemesse der Welt, etwa seit 1854 in viele europäische Länder sowie auch Übersee nach Amerika. In Modejournalen aus dem Jahre 1904, wie beispielsweise der „Modenwelt“, war von einer Entwicklung der Berliner Modeindustrie zur „Großmacht“ die Rede. Es hieß, auf dem Gebiet der günstigen Konfektionswaren sei Berlin sogar schon ausschlaggebend für den Weltmarkt geworden. Beispielhaft für diesen Erfolg steht die Original Berliner Trikottaille, einer Urform des heutigen Sweaters, die einen amerikanischen Modehändler gar dazu bewegte einen Auftrag im Wert von einer Million Mark im Hause Manheimer aufzugeben – einer damals ungeheuren Summe.

 

Das Gelingen der Berliner Branche ist auf diverse Faktoren zurückzuführen – vor allem jedoch auf den Willen und die Bereitschaft der Konfektionäre zur kontinuierlichen Innovation (insbesondere im Bereich der Produktion und Materialien). Als bedeutsam präsentiert sich in diesem Zusammenhang die Etablierung des sogenannten Zwischenmeistersystems - einem Fertigungssystem, das eine schnelle und günstige Herstellung von Kleidung ermöglichte und dessen vorrangiges Merkmal die Vergabe der Kleiderproduktion an unabhängige Schneidermeister und Heimnäherinnen war. Mittels des Zwischenmeistersystems trennten die Konfektionäre Produktion und Verkauf ökonomisch voneinander und schufen derart die erste Form des Verlagswesens in der Bekleidungsbranche.

 

Das Zwischenmeistersystem steht damit symptomatisch für das Berliner Modeschaffen dieser Zeit, das sich im Vergleich zu anderen Modestädten viel kommerzieller und pragmatischer ausnahm. Was in Paris entworfen wurde, wurde in Berlin tragbar gemacht, in den Alltag übersetzt – so die Devise. Eine Eigenschaft, die Berlin in den 1920er Jahren, dem Goldenen Jahrzehnt“, zu Gute kam, denn Modefirmen erschloss sich in jenen Tagen ein gänzlich modernes Klientel: die Angestellte. An der Seite jener Frauen, die neuerdings mit einem eigenen Auskommen ausgestattet waren, erreichten die Umsätze der Berliner Konfektionsbranche in den Zwanzigern die Milliardengrenze.

 Die Blüte, die der Hausvogteiplatz in den 1920er Jahren erfuhr, war jedoch nicht einzig wirtschaftlich, sondern auch kulturell angelegt. Ähnlich wie heute profilierte sich Berlin damals vor allem durch sein berüchtigtes Nachtleben. Die Stadt bot Erlebnissuchenden ein vielfältiges Angebot an Nachtlokalen, Varietés und Tanzpalästen. Jene Clubkultur fand auch in den Kreationen der damaligen Modeschöpfer ihren Niederschlag – so assoziiert man die Goldenen Zwanziger modisch bis heute in erster Linie mit schillernder und funkelnder Abendgarderobe. Die Vergnügungssucht der Menschen erforderte es, dass selbst Damen mit geringem Einkommen zumindest ein seidenes Kleid besitzen mussten, wobei man – ganz in Berliner Manier – auch hier eine moderne, preiswerte Alternative zu den feinen Seidenwaren der französischen Modellkleider bereitstellte, die Kunstseide. Die Mode profitierte von den unzähligen dem Amüsement gewidmeten Veranstaltungen der Nachkriegsjahre. Zum einen finanziell, da die wachsende Zahl gesellschaftlicher Zusammenkünfte mit einem erhöhten Bedarf an festlicher Kleidung einherging. Und zum anderen kulturell, weil sich Mode dieserart im Laufe der Zeit immer mehr als festes gesellschaftliches Thema einbürgerte.

 

Für Modeschaffende eine treffliche Voraussetzung, um ihre Verbindungen zu anderen Berliner Kulturbetrieben verstärkt zu nutzen. In der Folge entwickelten sich die Bühne und der Film zu „Laufstegen der Mode“.


 Ihre Stars waren auf und abseits des Podiums beziehungsweise des Filmsets in die neusten Kreationen der Berliner Konfektionshäuser gekleidet. Schauspielerinnen erschienen von nun an als Markenbotschafterinnen – exemplarisch dafür steht beispielsweise die Partnerschaft zwischen Fritzi Massary und der Designerin Clara Schultz. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit ließ sich Fritzi Massary in mannigfaltigen Modepublikationen ablichten. Die Bildunterschrift lautete nicht selten: „Fritzi Massary kauft nur bei Clara Schultz.“

 

Die ersprießliche Entfaltung der Berliner Branche geht jedoch nicht allein auf das Wirken der Konfektionäre am Hausvogteiplatz zurück, sondern gründet auch in der Arbeit verschiedener Interessensgemeinschaften, die sich nach dem Ersten Weltkrieg der Förderung der deutschen Modebranche verschrieben hatten – primär ist in diesem Kontext der „Verband der deutschen Modeindustrie“ zu nennen. Im Prinzip ein Ahne des heutigen Fashion Councils, leistete der Verband, dem über 1500 Experten aus den Gebieten Mode, Kunst und Kultur angehörten, vornehmlich Werbe- und Aufklärungsarbeit. Für seine Mitglieder galt es flächendeckend bekannt werden zu lassen, dass „in Berlin Mode gemacht wird.“

Die wirksamste Aktivität des Verbands war die Einführung der Berliner Modewoche, die erstmalig im August 1918 –also vor nun 100 Jahren- abgehalten wurde. Ziel dieser Veranstaltung war es, bei nationalen wie internationalen Einkäufern mit einem umfassenden Bild der hiesigen Modeproduktion aufzuwarten, ihr somit „Anerkennung zu verschaffen“ und sie „unabhängig vom Ausland zu machen.“

 

Wie konnte eine so wohlhabende Industrie einfach vergehen? Die Antwort darauf findet sich im politischen Wandel nach 1933. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten samt ihrer folgenschweren antisemitischen Welle beendete die Tradition der Berliner Modeproduktion. Die prächtigen jüdischen Konfektionshäuser verschwanden infolge der nationalsozialistischen Bemühungen die Berliner Branche zu „arisieren“. Um ihre entsetzlichen Ziele zu erreichen, unternahmen die NS-Treuen in den Jahren von 1933 bis 1939 eine Reihe von Maßnahmen - wozu unter anderem Boykotte und Enteignungen gehörten -, um die Geschäftstätigkeit der jüdischen Konfektionäre einzuschränken und letztendlich zu zerstören.

 

 

Nachwort HAUS GLANZ: Um Berlin als Modestadt der Zukunft zu etablieren, muß es seine Vergangenheit erkennen, aufarbeiten und wertschätzen. Der Blick zurück blickt nach vorne.



Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Dr. des. Kristin Hahn und Marian Vatter vom Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Vergangenheit Berlins als Modestadt und deutsche Mode jüdischer Konfektionäre am Hausvogteiplatz wurde dort unter Leitung von Dr. des. Kristin Hahn und Prof. Dr. Sigrid Jacobeit als zweisemestriges Studien- und Forschungsprojekt erforscht. Das Ergebnis ist die Wanderausstellung "Brennender Stoff" sowie der gleichnahmige Begleitband, erschienen im Hentrich & Hentrick Verlag Berlin Leipzig. Weitere Informationen unter: www.brennender-stoff.info.